Ich hatte ja neulich versprochen,
ein bisschen über meine Zeit am Theater zu verraten. Mit fliegenden Fahnen habe
ich mich damals, 1982, in diese fremde Welt gestürzt, mit Hoffnungen, die
vielleicht nur jemand verstehen kann, der wie ich aus einer Kleinstadt im Zonenrandgebiet
kommt, wo Fuchs und Has‘ nur noch ein müdes Gähnen füreinander übrig hatten.
Und tatsächlich erwies sich das Theater als ein Ort, an dem einem Herzlichkeit,
Offenheit und Toleranz begegnete. Leider auch Oberflächlichkeit und Starallüren.
1997 habe ich das Theater in
einem bewussten Schritt verlassen, weil ich die Nase voll hatte von
Befindlichkeiten, Egoismus und Unzuverlässigkeit. Letzten Endes habe ich dort
nie die Heimat gefunden, die ich mir mal erhoffte. Deshalb kann ich nicht
anders als mit Wehmut an diese Zeit zurückdenken. Wie wohl die meisten
Menschen, die mit Enthusiasmus und Idealen zum Theater kommen, habe ich einen
großen Teil davon auf meinem Weg verloren und bin am Ende reichlich
desillusioniert gewesen. Was nichts daran ändert, dass ich manchmal die
besondere Bühnenatmosphäre vermisse, das Herzklopfen vor einer Vorstellung, das
Miteinander. Meine Liebe für das Theater und die besondere Magie, die nur dort
möglich ist, stirbt nie.
Bei allen Enttäuschungen werde
ich auch immer zugeben, dass ich dem Theater unendlich viel verdanke. Ich habe
dort so manches gelernt, für meine Arbeit ebenso wie fürs Leben. Und mit Arbeit
meine ich keineswegs nur die Sprechtechnik, die mir bei meinen Lesungen zugute
kommt, sondern mehr noch all die Dinge, die ich beim täglichen Schreiben
brauche, und zwar egal, ob es sich um ein Theaterstück oder einen Roman
handelt: Die Regeln der Dramaturgie und das richtige Verhältnis zwischen
Spannung und Entspannung, um nur einige Aspekte zu nennen, sind universell.
Dass es auf die Details ankommt,
ist eine weitere Erkenntnis, die das Theater in mir befördert hat. Ein Satz wie
„Es war eingebrochen worden, die Einrichtung lag kreuz und quer durcheinander“
ist nichtssagend. Schreibe ich hingegen: Schubladen
waren herausgezogen, Truhen und Kisten aufgestemmt, ihr Inhalt über den Boden
verstreut. Zerbrochenes chinesisches Porzellan lag neben den Überresten eines
aufgeschlitzten Kissens, auf dem Teppich türmten sich achtlos hingeworfene
Hemden und Krawatten, eine karierte Tangohose, Strümpfe, zwei Westen, ein
Smoking, ein Panamahut und Manschettenknöpfe, dazwischen gab es Hunderte von
Lebensmittelkarten, die wohl aus einem versehentlich aufgerissenen Karton
gefallen waren und sich über den ganzen Raum verteilten, dann entstehen
Bilder im Kopf. In den Worten eines Regisseurs: „Man kann nicht allgemein betrunken
spielen.“ Sondern man muss seine Trunkenheit an einem konkreten Objekt festmachen
(Das Beispiel stammt übrigens aus „Inflation!“, einem meiner Krimis aus der
Weimarer Republik).
Was ich noch gelernt habe,
nämlich während ich über all die Jahre hinweg geholfen habe, Klassiker mit
Überlänge auf eine annehmbare Spielzeit zu kürzen, ist, meinen eigenen Texten gegenüber
genauso rigoros zu sein. Es kommt nicht selten vor, dass ich während meiner
Recherchen wochen-, ja monatelang auf der Jagd nach einem Detail bin und dann
bei der dritten oder vierten Überarbeitung meines Textes feststelle, dass
dieses Detail den Lesefluss hemmt. Dann fliegt es raus.
Und was habe ich fürs Leben
gelernt? Nun, zum Beispiel mich als schüchterner Anfänger in dem Haifischbecken
Theater zu behaupten. Auf dem Höhepunkt dieser Lehre habe ich mich mal mit
einem Intendanten geprügelt. Okay, das ist etwas dramatisch ausgedrückt. Nicht
nur, weil es so besser klingt, sondern vor allem, weil die Konsequenzen für
mein Leben dramatisch waren. In Wahrheit handelte es sich um einen kleinen
Schlagabtausch, eine Boxbewegung des betrunkenen Intendanten gegen meine Brust,
die ich gleicherweise beantwortete. Womit ich mir – für mich damals
überraschend und erkenntnisreich – den ewigen Respekt des betreffenden
Intendanten verdient hatte.
Viel erlebt habe ich natürlich.
Zum Beispiel wurden wir mal zu einem Dramafestival nach Pakistan eingeladen,
und ich habe die Reise dorthin organisiert und begleitet. Auf Krücken, weil ich
mir kurz zuvor im Theater einen Bänderriss zugezogen hatte, bei einem Sprung
von einer Treppe. In Stiefeln, aber weil ich während der Arbeit der Fußlüftung
wegen häufig in Badelatschen herumlief, machte selbstverständlich sofort die
Anekdote die Runde, ich hätte während des Unfalls Badelatschen getragen. So
wird es übrigens noch heute dort kolportiert. Was ich verstehe. Eine gute
Geschichte bagatellisiert man nicht durch so etwas Profanes wie Tatsachen.
Was war noch? Ach, zum Beispiel
meine Arbeiten als Tourneebegleiter. Der Ausbeutungsfaktor ist auf Tourneen
besonders hoch, in einem Fall habe ich fünf oder sechs Jobs zum Preis von
anderthalb gemacht, z. B. täglich frische Requisiten besorgt, die Bühne mit
aufgebaut, am Abend als Abendregisseur, Inspizient und Tonmeister gearbeitet.
Um Geld zu sparen, schlief der Bühnentechniker im Fahrerraum des Lastwagens und
ich hinten auf der Ladefläche. In einem Bett, das Teil des Bühnenbildes war. Im Winter.
Das einzige Stück, das ich
während meiner vierzehnjährigen Theaterzeit zweimal geholfen habe zu
inszenieren, war Shakespeares „Sommernachtstraum“. Beim ersten Mal ein
künstlerisches Desaster (Tourneetheater – Insidern sagt das alles). Das andere
Mal mit mittelmäßigem Ergebnis. Dabei liebe ich das Stück und kenne seine
Nuancen recht gut, zumal ich an einer Neuübersetzung beteiligt war.
Aus diesem Grund habe ich mich
dafür entschieden, den „Sommernachtstraum“ als Hintergrund für meinen kommenden
Krimi aus der Weimarer Republik zu wählen. Alternativ hatte ich auch über
„Faust I“ nachgedacht, ein Stück, das ich ebenfalls gut kenne – die
Inszenierung, die ich 1995 als Regieassistent begleitet habe, war sicher der
künstlerische Höhepunkt meiner Theaterzeit. Trotzdem habe ich mich am Ende für
den „Sommernachtstraum“ entschieden. Er ist nicht nur mit Blick auf den
internationalen Markt besser geeignet, sondern reflektiert vor allem
entscheidende Konflikte der handelnden Personen und ist daher ein wundervoller
Resonanzboden für meine Geschichte.
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Gunnar