Wann immer es geht, versuche ich,
meinen Horizont zu erweitern, auch in puncto Literatur. Der Blick über den
Tellerrand ist mir wichtig, deshalb suche ich oft nach Empfehlungen von
Büchern, zu denen ich normalerweise nicht greifen würde. Gelegentlich riskiere
ich sogar, einem Literaturtipp des deutschen Feuilletons zu folgen. Was sich
mit schöner Regelmäßigkeit als Reinfall entpuppt.
Das deutsche Feuilleton macht den
Wert oder Unwert eines Buches gern an der Sprache fest und ignoriert dabei jene
anderen Fertigkeiten, die zusammen erst einen hervorragenden Schriftsteller
ausmachen, wie etwa das Entwerfen eines stimmigen Plots, das Gespür für die
innere Dramaturgie einer Geschichte, für Atmosphäre, Rhythmus, Spannungsbogen,
die Erschaffung glaubwürdiger, vielschichtiger Figuren, die Fähigkeit,
lebendige Dialoge zu schreiben, erzählerisches Talent. Auch ein Shakespeare ist
nicht allein deshalb bedeutend, weil er die englische Sprache durch seine
Originalität bereichert hat, sondern vor allem, weil er die Fähigkeit besaß,
fesselnde Geschichten zu erzählen und dabei das pralle Leben zu schildern.
Selbst in der Bewertung der
Sprache beschränken sich Feuilletonisten häufig darauf, ob jemand neue,
unverbrauchte Bilder gefunden hat, also auf seine Originalität. Mindestens
ebenso wichtig für die gelungene Sprache eines Romans ist aber die Fähigkeit,
eine Atmosphäre zu erschaffen und die Gefühle des Lesers anzusprechen.
Unterschätzt wird auch die einfache, unaufdringliche Sprache, die sich bewusst
von den heutzutage üblichen rhetorischen Luftblasen abhebt. Komplizierte
Vorgänge oder fremdartige Erfahrungen auf eine schlichte Weise zu erzählen, ist
eine nicht hoch genug zu bewertende Kunst.
Da der Nationalsozialismus große
Gefühle in Misskredit gebracht hat, bewerten wir Deutschen den Intellekt höher
als das Gefühl. Das Ausloten von Gedanken gilt als Kunst, das Ausloten von
Gefühlen als Unterhaltung. Große Gefühle sind unberechenbar. Kunstvolle Sprache
dagegen bedeutet keine Gefahr, kunstvolle Sprache schafft Distanz.
Zudem neigen wir dazu, nur Dinge
zu schätzen, die mit Geschrei auf sich aufmerksam machen. Und es liegt nun
einmal in der Natur eines guten Erzählflusses und eines stimmigen Plots, dass
sie unsichtbar sind. Ihre Qualität beweist sich gerade dadurch, dass man sie
nicht wahrnimmt. Kunstvolle Sprache und manieristisch gedrechselte Sätze
dagegen lenken den Blick auf sich selbst und damit auf den Urheber, der uns in
jeder Zeile zuruft: „Seht, was ich kann!“
Bertold Brecht verfocht den
Grundsatz, mit Hilfe von Verfremdungseffekten, z.B. den Einbau eines
reflektierenden Erzählers, den Theaterzuschauer an der Identifikation zu hindern
und so Distanz zwischen Rezipient und Kunstwerk herzustellen, in dem naiven Glauben,
damit sei der Zuschauer weniger manipulierbar. Als lenkte nicht in jedem Fall
der Künstler den Blick des Rezipienten. Es ist im Gegenteil die Behauptung,
wertfrei zu erzählen, die die schlimmsten Manipulationen erst möglich macht.
Ein Film, ein Theaterstück, ein Roman, der sich als das gibt, was er ist – eine
leidenschaftliche Vision seines Regisseurs, seines Autors, der den Rezipienten
mittels Identifikation an seiner Vision teilhaben lassen möchte – ist da ehrlicher.
Wenn man sich die Rezensionen auf
den Feuilletonseiten der großen Zeitungen und Zeitschriften ansieht oder sich
schon mal die Begründungen von Literaturjurys anhören musste, wird man darin
Konstanten finden, die uns einiges über die Vorlieben und die reflexartige Anwendung
unhinterfragter Annahmen dieser selbsternannten Gralshüter der Kultur verraten.
So halten deutsche Feuilletonisten und Literaturjurys Geschichten für umso
anspruchsvoller, je mehr die Gespräche darin in indirekter Rede erzählt werden.
Indirekte Rede klingt doch irgendwie nach Reflexion, nicht wahr? Dass es
selbstredend Können erfordert, die Herkunft von Figuren, ihren Charakter, ihre
augenblickliche Stimmung durch das, was sie sagen, dem Leser offenzulegen, hat
sich dort anscheinend noch nicht herumgesprochen. Dabei kann man bereits von
den Märchen lernen, dass Reflexion etwas Statisches ist, das vom Wesentlichen
ablenkt. „Inneres in Äußeres zu verwandeln, ‚Seelenzustände in Erscheinung
umzusetzen‘, das hat Carl Spitteler ‚das oberste Gesetz epischer Kunst‘
genannt“, schreibt der Märchenforscher Max Lüthi.*
Auch bei den bevorzugten Themen
gibt es Konstanten. Als Faustregel gilt: Eine Geschichte ist umso verlockender
fürs deutsche Feuilleton, je weniger es darin um etwas geht. Larmoyante
Selbstbespiegelungen, ein trister Alltag, endlose Beschreibungen von
Nichtigkeiten – damit können Sie im Feuilleton punkten. Eine Geschichte über
das Lesen, immer wieder von Rückbezügen des Autors auf sich selbst
unterbrochen, das mag man dort. Literatur für Wiederkäuer.
* Gesammelte Werke Bd. VII (S.
181); zitiert nach Max Lüthi: So leben sie noch heute
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Vielen Dank für deinen Kommentar. Sobald ich ihn geprüft habe, schalte ich ihn frei.
Viele Grüße
Gunnar