Sonntag, 30. November 2014

Die Qualitätskriterien des deutschen Feuilletons


Wann immer es geht, versuche ich, meinen Horizont zu erweitern, auch in puncto Literatur. Der Blick über den Tellerrand ist mir wichtig, deshalb suche ich oft nach Empfehlungen von Büchern, zu denen ich normalerweise nicht greifen würde. Gelegentlich riskiere ich sogar, einem Literaturtipp des deutschen Feuilletons zu folgen. Was sich mit schöner Regelmäßigkeit als Reinfall entpuppt.


Das deutsche Feuilleton macht den Wert oder Unwert eines Buches gern an der Sprache fest und ignoriert dabei jene anderen Fertigkeiten, die zusammen erst einen hervorragenden Schriftsteller ausmachen, wie etwa das Entwerfen eines stimmigen Plots, das Gespür für die innere Dramaturgie einer Geschichte, für Atmosphäre, Rhythmus, Spannungsbo­gen, die Erschaffung glaubwürdiger, vielschichtiger Figuren, die Fähigkeit, lebendige Dialoge zu schreiben, erzählerisches Talent. Auch ein Shakespeare ist nicht allein deshalb bedeutend, weil er die englische Sprache durch seine Originalität bereichert hat, sondern vor allem, weil er die Fähigkeit besaß, fesselnde Geschichten zu erzählen und dabei das pralle Leben zu schildern.

Selbst in der Bewertung der Sprache beschränken sich Feuilletonisten häufig darauf, ob jemand neue, unverbrauchte Bilder gefunden hat, also auf seine Originalität. Mindestens ebenso wichtig für die gelungene Sprache eines Romans ist aber die Fähigkeit, eine Atmosphäre zu erschaffen und die Gefühle des Lesers anzusprechen. Unterschätzt wird auch die einfache, unaufdringliche Sprache, die sich bewusst von den heutzutage üblichen rhetorischen Luftblasen abhebt. Komplizierte Vorgänge oder fremdartige Erfahrungen auf eine schlichte Weise zu erzählen, ist eine nicht hoch genug zu bewertende Kunst.

Da der Nationalsozialismus große Gefühle in Misskredit gebracht hat, bewerten wir Deutschen den Intellekt höher als das Gefühl. Das Ausloten von Gedanken gilt als Kunst, das Ausloten von Gefühlen als Unterhaltung. Große Gefühle sind unberechenbar. Kunstvolle Sprache dagegen bedeutet keine Gefahr, kunstvolle Sprache schafft Distanz.

Zudem neigen wir dazu, nur Dinge zu schätzen, die mit Geschrei auf sich aufmerksam machen. Und es liegt nun einmal in der Natur eines guten Erzählflusses und eines stimmigen Plots, dass sie unsichtbar sind. Ihre Qualität beweist sich gerade dadurch, dass man sie nicht wahrnimmt. Kunstvolle Sprache und manieristisch gedrechselte Sätze dagegen lenken den Blick auf sich selbst und damit auf den Urheber, der uns in jeder Zeile zuruft: „Seht, was ich kann!“

Bertold Brecht verfocht den Grundsatz, mit Hilfe von Verfremdungseffekten, z.B. den Einbau eines reflektierenden Erzählers, den Theaterzuschauer an der Identifikation zu hindern und so Distanz zwischen Rezipient und Kunstwerk herzustellen, in dem naiven Glauben, damit sei der Zuschauer weniger manipulierbar. Als lenkte nicht in jedem Fall der Künstler den Blick des Rezipienten. Es ist im Gegenteil die Behauptung, wertfrei zu erzählen, die die schlimmsten Manipulationen erst möglich macht. Ein Film, ein Theaterstück, ein Roman, der sich als das gibt, was er ist – eine leidenschaftliche Vision seines Regisseurs, seines Autors, der den Rezipienten mittels Identifikation an seiner Vision teilhaben lassen möchte – ist da ehrlicher.

Wenn man sich die Rezensionen auf den Feuilletonseiten der großen Zeitungen und Zeitschriften ansieht oder sich schon mal die Begründungen von Literaturjurys anhören musste, wird man darin Konstanten finden, die uns einiges über die Vorlieben und die reflexartige Anwendung unhinterfragter Annahmen dieser selbsternannten Gralshüter der Kultur verraten. So halten deutsche Feuilletonisten und Literaturjurys Geschichten für umso anspruchsvoller, je mehr die Gespräche darin in indirekter Rede erzählt werden. Indirekte Rede klingt doch irgendwie nach Reflexion, nicht wahr? Dass es selbstredend Können erfordert, die Herkunft von Figuren, ihren Charakter, ihre augenblickliche Stimmung durch das, was sie sagen, dem Leser offenzulegen, hat sich dort anscheinend noch nicht herumgesprochen. Dabei kann man bereits von den Märchen lernen, dass Reflexion etwas Statisches ist, das vom Wesentlichen ablenkt. „Inneres in Äußeres zu verwandeln, ‚Seelenzustände in Erscheinung umzusetzen‘, das hat Carl Spitteler ‚das oberste Gesetz epischer Kunst‘ genannt“, schreibt der Märchenforscher Max Lüthi.*

Auch bei den bevorzugten Themen gibt es Konstanten. Als Faustregel gilt: Eine Geschichte ist umso verlockender fürs deutsche Feuilleton, je weniger es darin um etwas geht. Larmoyante Selbstbespiegelungen, ein trister Alltag, endlose Beschreibungen von Nichtigkeiten – damit können Sie im Feuilleton punkten. Eine Geschichte über das Lesen, immer wieder von Rückbezügen des Autors auf sich selbst unterbrochen, das mag man dort. Literatur für Wiederkäuer.


* Gesammelte Werke Bd. VII (S. 181); zitiert nach Max Lüthi: So leben sie noch heute

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Gunnar