Das Weihnachtsmärchen ist häufig
ein ungeliebtes Kind der Theater. Zwar bewahrt es sie oft genug vor roten
Zahlen, wird aber von vielen Theatermachern nur als Sprungbrett zu „richtigen“
Stücken betrachtet oder gar als antiquiert angesehen. Lieber setzen viele Bühnen
zur Weihnachtszeit auf Weltliteratur oder beschränken sich von vornherein auf Geschichten
von heute.
So wichtig es ist, dass Kinder
und Jugendliche ihre eigene Welt auf dem Theater abgebildet sehen, so
kurzsichtig ist der Gedanke, eine Geschichte aus der Gegenwart könne die
archetypischen Bilder der Mythen ersetzen oder deren Kraft, Poesie und
Phantasie erreichen. Die grundlegenden Erfahrungen des Lebens sind zeitlos und
brauchen sich daher auch nicht in das Korsett moderner Umweltbedingungen
zwängen zu lassen. Eltern-Kind-Konflikte beispielsweise hat es immer gegeben,
und ein Stück, das diesen Konflikt im Jugendjargon schildert, ist nicht
notwendigerweise treffender als eine gute Bearbeitung von Dornröschen oder
Aschenputtel.
Doch was macht eine gute
Märchenbearbeitung aus?
Unabdingbare Voraussetzung ist
zunächst einmal, dass die Beteiligten sowohl die Vorlage als auch das kindliche
Publikum ernst nehmen. Das bedeutet, einen direkten und natürlichen Ton zu
verwenden statt Kindertümelei und Veralberungen und auch keine Scheu vor
ungewohnten Wörtern zu haben. Es bedeutet, die Sorgen und Nöte der Kinder ernst
zu nehmen, von denen die Märchen erzählen, die Konflikte nicht zu verharmlosen
und einen unsentimentalen Zugang zum Märchen zu finden. Nichts wäre falscher,
als eine verlogene heile Welt aufzubauen. Auch und gerade Kinder dürfen die
Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten des Lebens nicht scheuen. Märchen
helfen ihnen dabei, indem sie auf symbolischer Ebene die Dinge beim Namen nennen.
Märchen ernst zu nehmen bedeutet, einen gesunden Respekt vor einem Stoff zu
haben, der nicht zufällig über Hunderte von Jahren tradiert wurde und über die
ganze Welt verbreitet ist. Überflüssige Modernismen verraten mangelndes
Vertrauen in den Stoff.
Ein weiteres Qualitätsmerkmal ist
die Berücksichtigung der spezifischen Anforderungen des Theaters. Dies
verlangt, in scheinbarem Widerspruch zum eben Gesagten, einen respektlosen
Umgang mit dem Märchen. Dazu zwei Beispiele:
Im „tapferen Schneiderlein“
bleibt am Ende der Handlungsstrang mit der Prinzessin offen: Ist sie zusammen
mit ihrem Vater vertrieben worden? Oder hat das Schneiderlein ihr den Verrat
verziehen und sie geheiratet? Wie steht sie inzwischen zu ihrer Tat? Für die
Bühne, auf der wir immerhin eine Frau aus Fleisch und Blut erlebt haben, die
man nicht einfach im weiteren Verlauf ignorieren kann, als hätte es sie nie
gegeben, muss dieser Handlungsstrang aufgelöst werden
Ob die „Bremer Stadtmusikanten“
singen können oder nicht, wird bei Grimm nicht ausdrücklich gesagt, wenngleich
die eine oder andere Textstelle und das Wissen um die Erzähltradition vermuten
lässt, dass sie es nicht können. Im erzählten oder gelesenen Märchen
funktioniert das, weil man die Tiere nicht singen hört und die Frage nach der
Qualität des Gesanges in der Schwebe bleibt. Auf der Bühne hingegen würde die
Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Tiere und ihrem Können dazu führen, die
Protagonisten zu denunzieren, weil sie sich offenkundig selbst überschätzen und
dadurch lächerlich machen. Demzufolge müssen für das Theater entweder der
formulierte Anspruch der Tiere heruntergeschraubt oder ihre Gesangsfähigkeiten
verbessert werden.
Wenn sich Märchen seit
Jahrhunderten trotz ihrer unmodernen Sujets ununterbrochener Beliebtheit
erfreuen und die darin enthaltenen Motive über die ganze Welt verbreitet sind,
kann es dafür nur einen einzigen Grund geben, nämlich den, dass sie
existentielle Einsichten in sich bergen. Märchen beschreiben innerseelische
Vorgänge, Reifungsprozesse. Sie erzählen in Bildern und Metaphern von
elementaren Erfahrungen, die einem Menschen im Laufe seines Lebens auf den
verschiedenen Entwicklungsstufen begegnen, und fördern die Zuversicht, dass das
Leben, obwohl es so kompliziert und seltsam, eben: verzaubert scheint, zu
bewältigen ist.
Diese in den Märchen verborgenen
zeitlosen Einsichten für das Publikum erfahrbar zu machen und dabei die
Erkenntnisse der Märchenforschung behutsam in die Handlung zu integrieren, ohne
zu belehren, ist eine weitere Aufgabe der Bearbeiter. Dabei ist es wichtig,
sich bewusst zu machen, dass dieses Wissen niemals plump ausgesprochen, sondern
bildhaft und durchaus vieldeutig weitergegeben wird. Dennoch darf die
Interpretation eines Märchens nicht beliebig sein. Die gelungene Gratwanderung
zwischen vielschichtig und beliebig kann eine Märcheninszenierung zu etwas
Besonderem machen.
Eine gute Bearbeitung zeichnet
sich durch die richtige Mischung von Werktreue und der Befähigung, sich von der
Vorlage zu lösen, aus. Damit aus drei, vier Seiten Märchentext ein
anderthalbstündiges Theaterstück entsteht, ist Einfühlungsvermögen vonnöten, um
den Stoff stimmig und ohne Bruch durch eigene Phantasie zu ergänzen. Um die Atmosphäre
des Märchens zu erhalten, ist es nötig, so dicht als möglich am Original zu
bleiben, andererseits muss man sich einer zeitgemäßen dramaturgischen Struktur
(Rhythmus, Spannungsbögen etc.) bedienen, um eine jahrhundertealte Geschichte
so zu erzählen, dass Kinder von heute sich mit den Gefühlen und Problemen der
Figuren identifizieren können. Am Ende gibt es für einen Bearbeiter kein
schöneres Lob, als wenn ein unbedarfter Leser oder Zuschauer das Gefühl hat,
die Zutaten des Autors schon aus dem Märchen zu kennen.
(Der Text ist eine bearbeitete
Fassung eines Artikels, der ursprünglich im Märchenspiegel 2/2001
veröffentlicht wurde)
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Gunnar