Sonntag, 14. Dezember 2014

Theater im Dornröschenschlaf


Das Weihnachtsmärchen ist häufig ein ungeliebtes Kind der Theater. Zwar bewahrt es sie oft genug vor roten Zahlen, wird aber von vielen Theatermachern nur als Sprungbrett zu „richtigen“ Stücken betrachtet oder gar als antiquiert angesehen. Lieber setzen viele Bühnen zur Weihnachtszeit auf Weltliteratur oder beschränken sich von vornherein auf Geschichten von heute.


So wichtig es ist, dass Kinder und Jugendliche ihre eigene Welt auf dem Theater abgebildet sehen, so kurzsichtig ist der Gedanke, eine Geschichte aus der Gegenwart könne die archetypischen Bilder der Mythen ersetzen oder deren Kraft, Poesie und Phantasie erreichen. Die grundlegenden Erfahrungen des Lebens sind zeitlos und brauchen sich daher auch nicht in das Korsett moderner Umweltbedingungen zwängen zu lassen. Eltern-Kind-Konflikte beispielsweise hat es immer gegeben, und ein Stück, das diesen Konflikt im Jugendjargon schildert, ist nicht notwendigerweise treffender als eine gute Bearbeitung von Dornröschen oder Aschenputtel.

Doch was macht eine gute Märchenbearbeitung aus?

Unabdingbare Voraussetzung ist zunächst einmal, dass die Beteiligten sowohl die Vorlage als auch das kindliche Publikum ernst nehmen. Das bedeutet, einen direkten und natürlichen Ton zu verwenden statt Kindertümelei und Veralberungen und auch keine Scheu vor ungewohnten Wörtern zu haben. Es bedeutet, die Sorgen und Nöte der Kinder ernst zu nehmen, von denen die Märchen erzählen, die Konflikte nicht zu verharmlosen und einen unsentimentalen Zugang zum Märchen zu finden. Nichts wäre falscher, als eine verlogene heile Welt aufzubauen. Auch und gerade Kinder dürfen die Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten des Lebens nicht scheuen. Märchen helfen ihnen dabei, indem sie auf symbolischer Ebene die Dinge beim Namen nennen. Märchen ernst zu nehmen bedeutet, einen gesunden Respekt vor einem Stoff zu haben, der nicht zufällig über Hunderte von Jahren tradiert wurde und über die ganze Welt verbreitet ist. Überflüssige Modernismen verraten mangelndes Vertrauen in den Stoff.

Ein weiteres Qualitätsmerkmal ist die Berücksichtigung der spezifischen Anforderungen des Theaters. Dies verlangt, in scheinbarem Widerspruch zum eben Gesagten, einen respektlosen Umgang mit dem Märchen. Dazu zwei Beispiele:

Im „tapferen Schneiderlein“ bleibt am Ende der Handlungsstrang mit der Prinzessin offen: Ist sie zusammen mit ihrem Vater vertrieben worden? Oder hat das Schneiderlein ihr den Verrat verziehen und sie geheiratet? Wie steht sie inzwischen zu ihrer Tat? Für die Bühne, auf der wir immerhin eine Frau aus Fleisch und Blut erlebt haben, die man nicht einfach im weiteren Verlauf ignorieren kann, als hätte es sie nie gegeben, muss dieser Handlungsstrang aufgelöst werden

Ob die „Bremer Stadtmusikanten“ singen können oder nicht, wird bei Grimm nicht ausdrücklich gesagt, wenngleich die eine oder andere Textstelle und das Wissen um die Erzähltradition vermuten lässt, dass sie es nicht können. Im erzählten oder gelesenen Märchen funktioniert das, weil man die Tiere nicht singen hört und die Frage nach der Qualität des Gesanges in der Schwebe bleibt. Auf der Bühne hingegen würde die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Tiere und ihrem Können dazu führen, die Protagonisten zu denunzieren, weil sie sich offenkundig selbst überschätzen und dadurch lächerlich machen. Demzufolge müssen für das Theater entweder der formulierte Anspruch der Tiere heruntergeschraubt oder ihre Gesangsfähigkeiten verbessert werden.

Wenn sich Märchen seit Jahrhunderten trotz ihrer unmodernen Sujets ununterbrochener Beliebtheit erfreuen und die darin enthaltenen Motive über die ganze Welt verbreitet sind, kann es dafür nur einen einzigen Grund geben, nämlich den, dass sie existentielle Einsichten in sich bergen. Märchen beschreiben innerseelische Vorgänge, Reifungsprozesse. Sie erzählen in Bildern und Metaphern von elementaren Erfahrungen, die einem Menschen im Laufe seines Lebens auf den verschiedenen Entwicklungsstufen begegnen, und fördern die Zuversicht, dass das Leben, obwohl es so kompliziert und seltsam, eben: verzaubert scheint, zu bewältigen ist.

Diese in den Märchen verborgenen zeitlosen Einsichten für das Publikum erfahrbar zu machen und dabei die Erkenntnisse der Märchenforschung behutsam in die Handlung zu integrieren, ohne zu belehren, ist eine weitere Aufgabe der Bearbeiter. Dabei ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass dieses Wissen niemals plump ausgesprochen, sondern bildhaft und durchaus vieldeutig weitergegeben wird. Dennoch darf die Interpretation eines Märchens nicht beliebig sein. Die gelungene Gratwanderung zwischen vielschichtig und beliebig kann eine Märcheninszenierung zu etwas Besonderem machen.

Eine gute Bearbeitung zeichnet sich durch die richtige Mischung von Werktreue und der Befähigung, sich von der Vorlage zu lösen, aus. Damit aus drei, vier Seiten Märchentext ein anderthalbstündiges Theaterstück entsteht, ist Einfühlungsvermögen vonnöten, um den Stoff stimmig und ohne Bruch durch eigene Phantasie zu ergänzen. Um die Atmosphäre des Märchens zu erhalten, ist es nötig, so dicht als möglich am Original zu bleiben, andererseits muss man sich einer zeitgemäßen dramaturgischen Struktur (Rhythmus, Spannungsbögen etc.) bedienen, um eine jahrhundertealte Geschichte so zu erzählen, dass Kinder von heute sich mit den Gefühlen und Problemen der Figuren identifizieren können. Am Ende gibt es für einen Bearbeiter kein schöneres Lob, als wenn ein unbedarfter Leser oder Zuschauer das Gefühl hat, die Zutaten des Autors schon aus dem Märchen zu kennen.


(Der Text ist eine bearbeitete Fassung eines Artikels, der ursprünglich im Märchenspiegel 2/2001 veröffentlicht wurde)

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Gunnar