Oktober 1977. Ich war sechzehn
und dabei, mich musikalisch von Zuhause abzunabeln. Natürlich hörte ich die
Charts, die damals nicht in demselben Maß wie heute mit fließbandgefertigtem Industriemüll
verstopft wurden, immerhin spielten sie Sachen wie Blinded by the light von Manfred
Mann (die kurze Radioversion, aber besser als nichts) und später The logical song von Supertramp oder Another brick in the wall von Pink
Floyd.
Jedenfalls saugte ich wie ein
Schwamm alles auf, was es an neuen Strömungen gab, und trieb mich häufig im
örtlichen Plattenladen herum. Dort entdeckte ich dann dieses wunderschöne Cover
und dachte, eine Band, die solche Cover auf ihre Platten bringt, sollte ich mir
wohl besser mal anhören.
Das erste Stück des Albums, Aristillus, war kurz, eher eine Art
Intro, ließ mich aber bereits aufhorchen. Als dann Song within a song lief, wusste ich, dass ich nicht weiter hören
musste. Das war fantastisch. Das war ungewohnt. Das war anders als alles, was
ich kannte. Eine neue Welt tat sich mir auf.
Mit Moonmadness von der Gruppe Camel
unterm Arm verließ ich den Laden, begierig, mir das ganze Album zu Hause
anzuhören. Hinterher war ich nicht mehr derselbe. Dass es so etwas gab! Dieser
Sound, diese Atmosphäre, diese Melodieführung! Schon die Instrumentierung war
ungewöhnlich – eine Flöte in der Rockmusik! Offenbar gab es mehr auf der Welt als
das, worauf mich Elternhaus, Schule und Kleinstadt vorbereitet hatten. Das hier
war wie eine bewusstseinserweiternde Droge. Und der Beginn einer musikalischen
Liebe, die ein Leben lang anhalten sollte.
Camel stammt aus Surrey, England. Gründungsmitglieder (1971) waren
Andrew Latimer (guitar, flute) und Peter Bardens (keyboards), die die meisten
Lieder schrieben, außerdem Andy Ward (drums) und Doug Ferguson (bass).
Allerdings hat es im Laufe der Jahre zahlreiche personelle Wechsel gegeben, bei
denen Andrew Latimer der einzig fixe Punkt blieb. Die Band integrierte
zeitweilig Musiker von Caravan (in
einem Ausmaß, dass Latimer mal augenzwinkernd darüber nachdachte, die Gruppe in
„Caramel“ umzutaufen), Alan Parsons
Project, Genesis, Fairport Convention oder Kayak, um nur einige zu nennen. In den Anfangsjahren
gab es eine gemeinsame Tour mit Barclay
James Harvest.
Camel spielen Progressive Rock, gelegentlich mit jazzigen oder
folkigen Einflüssen. Viele Titel sind rein instrumental, bei den anderen sind die
Texte knapp gehalten – Gesang ist nicht die Stärke der Gruppe.
1973 erschien ihre erste LP,
schlicht Camel betitelt, in der sie
noch auf der Suche nach einem eigenen Stil waren. Schon das zweite Album, Mirage (1974), klingt deutlich ausgereift.
Den Sprung von einer unbekannten Band zum Geheimtipp schafften sie mit dem 1975
erschienenen The Snow Goose, ein rein
instrumentales Konzeptalbum nach einer ergreifenden Kurzgeschichte von Paul
Gallico.
Dieses Album brachte jedoch
zunächst einmal Probleme mit sich, weil Gallico von der Veröffentlichung
überrascht wurde und als jemand, der Rauchen verabscheute und die Band aufgrund
ihres Namens verdächtigte, mit der gleichnamigen Zigarettenmarke im Bunde zu
sein (tatsächlich gab es mal eine kurzfristige Kooperation), kurzerhand verbot,
den Titel zu benutzen. Seither trägt die Platte den Zusatz „Music inspired by
...“.
Gallico, der nicht glücklich
darüber war, hat daraufhin eine alternative musikalische Bearbeitung seiner
Geschichte mit kurzen Erzählpassagen initiiert, Paul Gallico’s The Snow Goose,
ebenfalls eine wunderschöne Platte, die anzuhören sich lohnt. So verdanken wir
den Streitigkeiten gleich zwei herausragende musikalische Versionen. Übrigens
lohnt es sich auch, die Geschichte zu lesen.
Als nächstes erschienen dann
meine beiden Favoriten unter den Platten der Gruppe: Moonmadness (1976) und Rain
Dances (1977).
Zu der Zeit begannen die
Unstimmigkeiten zwischen den beiden Köpfen der Band, Latimer und Bardens,
größer und größer zu werden. Wie Latimer später sagte: Beim kreativen Prozess
kamen sie gut miteinander aus, aber sobald es an die Umsetzung im Studio ging,
unterschieden sich ihre Vorstellungen stark voneinander, und sie blockierten
sich gegenseitig. Deshalb war es wohl unausweichlich, dass Bardens schließlich
die Gruppe verließ.
Meiner Meinung nach hört man dem
letzten gemeinsamen Projekt, Breathless
(1978), die Rivalitäten an. Zwar gibt es auch dort so schöne Stücke wie Breathless oder Rainbow’s end, dazu einen überaus witzigen Titel, der ausnahmsweise
von Richard Sinclair geschrieben wurde, nämlich Down on the farm, aber eben auch so etwas Überflüssiges wie Summer lightning, das arge Konzessionen
an das damals entstehende Discofieber machte.
Der Weggang von Bardens bot die
Möglichkeit, Neues auszuprobieren. Künftig sollte die Band zwei Keyboardspieler
in ihrer Besetzung aufweisen. In der Tat führt I Can See Your House From Here (1979) in eine neue interessante
Richtung, konsequent weitergeführt in dem Konzeptalbum Nude (1981).
Die begleitende Tour zu Nude erwies sich als Katastrophe. Was
damals noch niemand wusste: Der Drummer Andy Ward litt unter Bipolarer Störung
und war manisch-depressiv, was zu schweren Problemen innerhalb der Gruppe
führte. Wie viele, die unter dieser Krankheit leiden, sprach auch er verstärkt
dem Alkohol und anderen Drogen zu, die die Krankheit lange Zeit vertuschten.
Mitte 1981 unternahm er einen Selbstmordversuch, den er glücklicherweise
überlebte.
Unter dem Druck der Plattenfirma,
ein neues Album zu veröffentlichen, blieb Andrew Latimer nichts anderes übrig,
als seinen langjährigen Drummer zu ersetzen. Dessen Abwesenheit auf der
konsequenterweise The Single Factor
(1982) betitelten LP wurde den Fans dadurch erklärt, Ward müsse „eine schwere
Verletzung der Hand“ auskurieren. Er sollte jedoch nie wieder als reguläres
Mitglied zu Camel zurückkehren.
Stationary Traveler, 1984 erschienen, blieb auf lange Zeit das
letzte reguläre Album. Das lag zum einen an juristischen Streitigkeiten mit
Plattenfirmen und Management und daran, dass anschließende Verhandlungen mit
anderen, auch kleineren Plattenfirmen zu keinem Ergebnis führten, aber auch
daran, dass Latimer 1988 in die USA zog und anschließend ein Jahr Auszeit
nehmen wollte. Mit dem Geld aus dem Verkauf seines Hauses in England
finanzierte er in den USA ein Tonstudio, in dem er das folgende Album, Dust and Dreams (1991), aufnahm und
schließlich, desillusioniert von der Musikindustrie, auch seine eigene
Produktionsfirma gründete, Camel
Productions, unter der er seine Platten seither vertreibt.
Neben Dust and Dreams entstanden die Alben Harbour of Tears (1996), Rajaz
(1999) und A Nod and a Wink (2002).
Einen Vergleich mit den Alben von Mirage
bis Stationary Traveller halten sie
sicher nicht Stand, aber immer noch finden sich darauf schöne Stücke, die dafür
sorgen, dass ich jedes neue Album mit Spannung erwarte. Rajaz hat auch endlich wieder ein schönes Bookletkonzept wie früher
und der Titel übrigens eine interessante Hintergrundgeschichte: Es ist ein
Ausdruck für spontane Kompositionen aus alten Zeiten, inspiriert durch den
Rhythmus der Fortbewegung von Kamelen, gesungen, um den erschöpften Reisenden
zu helfen, ihr Ziel zu erreichen.
2013 veröffentlichte Camel eine Neueinspielung von The Snow Goose, die zwar ein schöneres
Cover als die frühere CD, dafür aber leider nichts mehr von der Spannung und Elektrizität
der alten Aufnahme hat.
2006 zog Latimer nach
Großbritannien zurück. Im folgenden Jahr wurde bekannt, dass er seit 1992 unter
einer seltenen Krankheit litt, die die Blutbildung im Knochenmark betrifft
(Polycythaemia vera). Diese entwickelte sich mittlerweile zu einer
Knochenmarkfibrose. Nach langwieriger Chemotherapie und
Stammzellentransplantation 2007 scheint es ihm inzwischen wieder besser zu
gehen. 2014 erhielt er bei den Progressive Music Awards einen Preis für sein Lebenswerk.
Peter Bardens, sein einstiger
Weggefährte, hat als Solokünstler zahlreiche Platten veröffentlicht, darunter
ein paar sehr schöne Stücke, allerdings auch viel seichtes New-Age-Zeug. 2002
starb er an Lungenkrebs.
Andy Ward spielt als Sessionmusiker
in zahlreichen Bands.
Anspieltipps:
Anspieltipps Peter Bardens solo:
Auf die Band konnte ich nicht kommen. Nie von gehört. :D
AntwortenLöschenLäuft gerade auf youtube bei mir. Nichts für meine abgehärteten Ohren, aber ich höre weiter.
https://www.youtube.com/watch?v=hu6bI-lZPtU&list=PL021CE6087FAC268B
Aus irgendwelchen Gründen funktionieren zwei Links nicht mehr. Offenbar wurden die Videos kurzfristig gelöscht. Und darunter ausgerechnet "Ice" ... Es gibt noch live-Versionen bei Youtube, aber anscheinend keine Studioaufnahme.
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