Sonntag, 5. April 2015

Erlebte Rede


Manche Leser bemerken, dass ich normalerweise nicht die Ich-Perspektive benutze, und schließen daraus, ich würde auktorial schreiben. Mitnichten.


Zunächst einmal: Ich erzähle immer aus der Sicht der handelnden Figuren, sehe die Welt durch ihre Augen, ihre Gedanken, ihre Gefühle. Entsprechend suche ich nach einer Form, in der sich dies am besten umsetzen lässt. Welche wäre das?

Die Ich-Perspektive ist zwar die intimste Form der Erzählung und zieht den Leser daher in die Welt des Protagonisten hinein, stößt dafür aber rasch an ihre Grenzen. Es gibt Dinge, die der Protagonist nicht weiß, die ich meinen Lesern jedoch mitteilen möchte. Die auktoriale Erzählweise dagegen lässt mir zwar die Freiheit zu beschreiben, was immer ich will, ist allerdings auch distanziert.

Ich möchte das Beste aus beiden Welten, deshalb arbeite ich mit einer Technik, die sich „erlebte Rede“ nennt. Es handelt sich dabei um ein Stilmittel, das zwischen direkter und indirekter Rede hin- und herschwingt. Gedanken werden in der dritten Person ausgedrückt, meist im sogenannten „Epischen Präteritum“, also einer Vergangenheitsform, die einem beim Lesen jedoch wie Gegenwart vorkommt, weil sie dieselbe Zeitform benutzt wie die, in der der Protagonist handelt und lebt. (Genau genommen ist die Bezeichnung unglücklich gewählt, weil das Entscheidende dieses stilistischen Mittels nicht der Dialog ist, sondern die Tatsache, dass der Leser an der Gefühls- und Gedankenwelt des Protagonisten teilhat. „Erlebte Gedanken“ wäre treffender).

Ich will das an einem Beispiel aus meinem aktuellen Krimi aus der Weimarer Republik, an dem ich gerade schreibe, erläutern. Die Situation ist folgende: Hendrik klimpert ein paar Töne auf einem Klavier und wird dadurch an seine Liebe erinnert, von der er sich im Streit getrennt hat. Im Text heißt es:

Behutsam klappte er den Deckel wieder zu. Beinahe konnte er ihre Wärme neben sich spüren, auf dem Klavierhocker. Hendrik schloss die Augen, um sich der Vision hinzugeben. Töricht. Töricht. Warum quälte er sich so?

„Töricht. Töricht.“ ist offensichtlich nichts, was ein Erzähler von sich geben könnte, sondern stammt direkt aus dem Kopf von Hendrik. Dann folgt allerdings ein Satz in der dritten Person. Also nicht: „Warum quäle ich mich so?“, was ein Innerer Monolog wäre, auch nicht: „Er fragte sich, warum er sich so quälte“, was auktoriales Erzählen wäre. Sondern eine weitere Aussage aus dem Inneren von Hendriks Kopf, die sich jedoch formal der Beschreibung und der Zeitform in den ersten Sätzen anpasst, der Betrachtung Hendriks von außen durch den Erzähler.

Auf diese Weise verschmelzen Erzähler und Figur miteinander, oft lässt sich nicht entscheiden, was von wem stammt. Deswegen ist diese Art des Erzählens so dicht und eindringlich: Gedanken und Gefühle der Figur werden nahtlos mit objektiven Beschreibungen verwoben.

Die Entscheidung für eine Erzählperspektive halte ich übrigens für eine der wichtigsten Entscheidungen, die ein Autor treffen sollte, bevor er auch nur eine Zeile schreibt. Für meine Krimis aus der Weimarer Republik beispielsweise habe ich mich entschieden, die Geschichten ausschließlich aus der Sicht Hendriks und Dianas zu erzählen (mit Ausnahme des Prologs, in dem zumeist der Mord geschildert wird); der Leser nimmt also die Umstände des Mordes und die schrittweise Aufklärung durch die Augen der beiden Protagonisten wahr.

In meinem Nibelungenroman „Krähen über Niflungenland“ dagegen, in dem es gerade darum geht, dass unterschiedliche Sichtweisen aufeinanderprallen, wechsele ich ständig zwischen den Menschen hin und her, sehe die Welt mal mit Sigfrids, mal mit Hagens Augen, mal mit Grimhilds, Brünhilds oder Gunters.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Vielen Dank für deinen Kommentar. Sobald ich ihn geprüft habe, schalte ich ihn frei.

Viele Grüße

Gunnar