Sonntag, 20. Dezember 2015

Ins Feuer mit der Hexe!


Die Welt ist kein Schlaraffenland, kein Ort, an dem unentwegt eitel Freud‘ und Sonnenschein herrschen. Aber sie ist ein magischer Ort, an dem es möglich ist, all das Schreckliche, das uns umgibt – Gewalt, Hass, Grausamkeit, Ungerechtigkeit – zu bewältigen. Wenn wir uns den Konflikten stellen und den dunklen Seiten des Lebens mutig ins Auge sehen. Und wenn wir dabei reinen Herzens bleiben.

Das ist – neben der individuellen Botschaft jeden Märchens – die Botschaft der Summe aller Märchen. Eine existentielle Botschaft, denn sie sagt dem zuhörenden oder zuschauenden Kind: Auch wenn ich den Erwachsenen mit ihren unbegreiflichen Handlungen im Augenblick hilflos ausgesetzt bin, auch wenn das Leben undurchschaubar erscheint, ich werde es eines Tages bewältigen. Es ist möglich, in dieser absurden Welt glücklich zu sein.

Wir alle können dieses Ziel erreichen, wenn wir bereit sind, die Welt anzunehmen – die ganze Welt, nicht nur den Teil, der uns gerade angenehm ist. Aber dieses Glück ist nicht umsonst, es fällt uns nicht in den Schoß. Wir müssen darum ringen. Wir müssen bereit sein, mit dem Drachen zu kämpfen, dem Teufel die goldenen Haare auszureißen oder sieben Jahre lang barfuß durch die Wildnis zu wandern bis ins Land am Rande der Ewigkeit.

Wer die in den Märchen vorhandenen Konflikte bagatellisiert, verfälscht diese Botschaft. Die Beobachtung, dass es in den Medien immer mehr Gewalt gibt, die Vermutung, dass zwischen dieser Tatsache und der zunehmenden Gewaltbereitschaft unter Kindern und Jugendlichen ein Zusammenhang bestehe, der Anspruch, als Märchenbearbeiter nicht an dieser Gewaltspirale teilhaben und dem etwas anderes entgegensetzen zu wollen – all diese Überlegungen sind ehrenwert. Wohlmeinende Absichten werden allerdings in ihr Gegenteil verkehrt, wenn diesem komplexen Problem mit Klischees und Patentrezepten zu Leibe gerückt wird statt zu differenzieren.

Gewalt ist nicht gleich Gewalt. Die Alternative zur Verherrlichung von Gewalt besteht nicht in ihrer Leugnung und der Bagatellisierung von Konflikten; im Gegenteil: Eine nur mangelhaft vorhandene Streitkultur und die Furcht, dem Schrecken ins Gesicht zu sehen, sind der Humus, auf dem das Verdrängte besonders gut gedeiht.

Die Versuche, Kinder vor der Konfrontation mit Gewalt zu schützen, einst entstanden aus dem berechtigten Anliegen der 68er-Generation, ihren Kindern eine andere als die Schwarze Pädagogik mit auf den Weg zu geben, haben letztlich dazu geführt, sie vom Leben fernzuhalten. Konfliktsituationen in einer Geschichte zu entschärfen ist ein nicht durchdachter, ja verantwortungsloser Ansatz, der völlig am Kern der Sache vorbeigeht. Es ist unsere eigene Angst vor der Gewalt, die hier auf sublime Weise wieder zutage tritt.

Was wir brauchen ist ein Ansatz, der den Heranwachsenden ein Instrumentarium in die Hand gibt, das ihnen dabei hilft, mit der alltäglichen Bedrohung durch Hass und Gewalt fertig zu werden. Das Märchen liefert solch ein Instrumentarium, nämlich das Urvertrauen, dass die Bewältigung einer konfliktbeladenen Welt möglich ist. Ohne ein derartiges Urvertrauen sind sämtliche anderen Ansätze von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Um zu einer differenzierten Betrachtungsweise von Gewaltdarstellung im Märchen und ihrer Umsetzung bei Bearbeitungen durch Bühne, Film und Funk zu kommen, ist es nötig, sich Folgendes klarzumachen:

1. Jede gestaltete Geschichte besitzt eine dramatische Form, mit anderen Worten: erzählt von Konflikten. Gleichgültig, ob wir eine Tragödie oder eine Komödie vor uns haben, ob als Film, Buch oder erzähltes Märchen: Menschliches Leben, in eine dichterische Form gebracht, enthält notwendigerweise Konfliktstoff. Eine bestimmte Form von Gewalt, in einem wertfreien Sinn verstanden (als zielgerichtete Energie, als der Wille, eigene Lebensvorstellungen gegen Widerstände durchzusetzen), ist ihr immanent. Die Frage nach der Gewalt stellt sich demzufolge nicht als eine grundsätzliche, sondern müsste eher lauten: Um welche Art von Gewalt handelt es sich? Ist diese oder jene Szene dramaturgisch notwendig oder bloß lüsternes Zurschaustellen?

2. Gewalt, insbesondere verbunden mit einer Reizüberflutung, die den Zuschauer oder Zuhörer erschlägt und passiv macht, erzeugt Spannung, also Anspannung. Ein Kind, das diesen Manipulationen seiner Gefühlswelt hilflos ausgesetzt ist, kann dadurch überfordert und verängstigt werden. Wichtig ist deswegen, dass diese Anspannung – und zwar nicht erst in der Fortsetzung nächste Woche! – aufgelöst wird.

3. Worin sich Gewalt im Märchen deutlich von der Gewalt in vielen Fernseh- oder Kinofilmen unterscheidet, ist, dass es sich bei Märchen um symbolhafte Geschichten handelt. Kinder haben ein feines Sensorium und ein intuitives Verständnis für diesen elementaren Unterschied. Ich habe noch nie davon gehört, dass Kinder eine alte Frau ins Feuer gestoßen hätten, weil sie es so von Hänsel und Gretel gelernt haben. Hingegen habe ich sehr wohl davon gehört, dass Kinder ihre Actionhelden imitieren und dabei bisweilen die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit überschreiten.

Entscheidend für die Frage, wie Gewalt in Märchenbearbeitungen zu bewerten ist, scheint mir aus all dem bisher Gesagten die Art der Umsetzung zu sein. Gewalt über einen Kamm zu scheren und grundsätzlich zu verteufeln, ist der falsche Ansatz; es geht um das Wie, nicht um das Was.

Konflikte zu verulken und lächerlich zu machen, bedeutet nichts anderes, als die Probleme der Welt und damit auch die Probleme der Kinder nicht ernst zu nehmen. Im Gegenteil ist es nötig, Gewalt im ganzen Ausmaß seiner Bedrohung und Konsequenz deutlich zu machen, will man nicht eine verlogene heile Welt vorgaukeln. Im Gegensatz zu dem, was tagtäglich aus dem Fernsehen über uns hereinbricht, ist es aber märchengemäß, sich nicht darin zu suhlen. Realismus ja, Naturalismus nein. Herumfliegende Körperteile, spritzendes Blut bzw. die entsprechenden Geräusche – all das ist nicht nur angstauslösend, es entspricht auch nicht dem Märchenstil. Brutalitäten mit unverfänglichen oder nichtssagenden Worten zu bezeichnen und im Unkonkreten, Nebulösen zu belassen allerdings ebenso wenig.


(Der Text ist eine bearbeitete Fassung eines Artikels, der ursprünglich im Märchenspiegel 2/2002 veröffentlicht wurde)


Ich wünsche allen Lesern ein frohes und friedliches Weihnachtsfest!


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Gunnar