Die Welt ist kein
Schlaraffenland, kein Ort, an dem unentwegt eitel Freud‘ und Sonnenschein
herrschen. Aber sie ist ein magischer Ort, an dem es möglich ist, all das
Schreckliche, das uns umgibt – Gewalt, Hass, Grausamkeit, Ungerechtigkeit – zu
bewältigen. Wenn wir uns den Konflikten stellen und den dunklen Seiten des
Lebens mutig ins Auge sehen. Und wenn wir dabei reinen Herzens bleiben.
Das ist – neben der individuellen
Botschaft jeden Märchens – die Botschaft der Summe aller Märchen. Eine
existentielle Botschaft, denn sie sagt dem zuhörenden oder zuschauenden Kind:
Auch wenn ich den Erwachsenen mit ihren unbegreiflichen Handlungen im
Augenblick hilflos ausgesetzt bin, auch wenn das Leben undurchschaubar
erscheint, ich werde es eines Tages bewältigen. Es ist möglich, in dieser
absurden Welt glücklich zu sein.
Wir alle können dieses Ziel
erreichen, wenn wir bereit sind, die Welt anzunehmen – die ganze Welt, nicht
nur den Teil, der uns gerade angenehm ist. Aber dieses Glück ist nicht umsonst,
es fällt uns nicht in den Schoß. Wir müssen darum ringen. Wir müssen bereit
sein, mit dem Drachen zu kämpfen, dem Teufel die goldenen Haare auszureißen
oder sieben Jahre lang barfuß durch die Wildnis zu wandern bis ins Land am
Rande der Ewigkeit.
Wer die in den Märchen vorhandenen
Konflikte bagatellisiert, verfälscht diese Botschaft. Die Beobachtung, dass es
in den Medien immer mehr Gewalt gibt, die Vermutung, dass zwischen dieser
Tatsache und der zunehmenden Gewaltbereitschaft unter Kindern und Jugendlichen
ein Zusammenhang bestehe, der Anspruch, als Märchenbearbeiter nicht an dieser
Gewaltspirale teilhaben und dem etwas anderes entgegensetzen zu wollen – all
diese Überlegungen sind ehrenwert. Wohlmeinende Absichten werden allerdings in
ihr Gegenteil verkehrt, wenn diesem komplexen Problem mit Klischees und
Patentrezepten zu Leibe gerückt wird statt zu differenzieren.
Gewalt ist nicht gleich Gewalt.
Die Alternative zur Verherrlichung von Gewalt besteht nicht in ihrer Leugnung
und der Bagatellisierung von Konflikten; im Gegenteil: Eine nur mangelhaft
vorhandene Streitkultur und die Furcht, dem Schrecken ins Gesicht zu sehen,
sind der Humus, auf dem das Verdrängte besonders gut gedeiht.
Die Versuche, Kinder vor der
Konfrontation mit Gewalt zu schützen, einst entstanden aus dem berechtigten
Anliegen der 68er-Generation, ihren Kindern eine andere als die Schwarze
Pädagogik mit auf den Weg zu geben, haben letztlich dazu geführt, sie vom Leben
fernzuhalten. Konfliktsituationen in einer Geschichte zu entschärfen ist ein
nicht durchdachter, ja verantwortungsloser Ansatz, der völlig am Kern der Sache
vorbeigeht. Es ist unsere eigene Angst vor der Gewalt, die hier auf sublime
Weise wieder zutage tritt.
Was wir brauchen ist ein Ansatz,
der den Heranwachsenden ein Instrumentarium in die Hand gibt, das ihnen dabei
hilft, mit der alltäglichen Bedrohung durch Hass und Gewalt fertig zu werden.
Das Märchen liefert solch ein Instrumentarium, nämlich das Urvertrauen, dass
die Bewältigung einer konfliktbeladenen Welt möglich ist. Ohne ein derartiges
Urvertrauen sind sämtliche anderen Ansätze von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Um zu einer differenzierten
Betrachtungsweise von Gewaltdarstellung im Märchen und ihrer Umsetzung bei
Bearbeitungen durch Bühne, Film und Funk zu kommen, ist es nötig, sich
Folgendes klarzumachen:
1. Jede gestaltete Geschichte
besitzt eine dramatische Form, mit anderen Worten: erzählt von Konflikten.
Gleichgültig, ob wir eine Tragödie oder eine Komödie vor uns haben, ob als
Film, Buch oder erzähltes Märchen: Menschliches Leben, in eine dichterische
Form gebracht, enthält notwendigerweise Konfliktstoff. Eine bestimmte Form von
Gewalt, in einem wertfreien Sinn verstanden (als zielgerichtete Energie, als
der Wille, eigene Lebensvorstellungen gegen Widerstände durchzusetzen), ist ihr
immanent. Die Frage nach der Gewalt stellt sich demzufolge nicht als eine
grundsätzliche, sondern müsste eher lauten: Um welche Art von Gewalt handelt es
sich? Ist diese oder jene Szene dramaturgisch notwendig oder bloß lüsternes
Zurschaustellen?
2. Gewalt, insbesondere verbunden
mit einer Reizüberflutung, die den Zuschauer oder Zuhörer erschlägt und passiv
macht, erzeugt Spannung, also Anspannung. Ein Kind, das diesen Manipulationen
seiner Gefühlswelt hilflos ausgesetzt ist, kann dadurch überfordert und
verängstigt werden. Wichtig ist deswegen, dass diese Anspannung – und zwar
nicht erst in der Fortsetzung nächste Woche! – aufgelöst wird.
3. Worin sich Gewalt im Märchen deutlich
von der Gewalt in vielen Fernseh- oder Kinofilmen unterscheidet, ist, dass es
sich bei Märchen um symbolhafte Geschichten handelt. Kinder haben ein feines
Sensorium und ein intuitives Verständnis für diesen elementaren Unterschied.
Ich habe noch nie davon gehört, dass Kinder eine alte Frau ins Feuer gestoßen hätten,
weil sie es so von Hänsel und Gretel
gelernt haben. Hingegen habe ich sehr wohl davon gehört, dass Kinder ihre
Actionhelden imitieren und dabei bisweilen die Grenze zwischen Spiel und
Wirklichkeit überschreiten.
Entscheidend für die Frage, wie
Gewalt in Märchenbearbeitungen zu bewerten ist, scheint mir aus all dem bisher
Gesagten die Art der Umsetzung zu sein. Gewalt über einen Kamm zu scheren und
grundsätzlich zu verteufeln, ist der falsche Ansatz; es geht um das Wie, nicht
um das Was.
Konflikte zu verulken und
lächerlich zu machen, bedeutet nichts anderes, als die Probleme der Welt und
damit auch die Probleme der Kinder nicht ernst zu nehmen. Im Gegenteil ist es
nötig, Gewalt im ganzen Ausmaß seiner Bedrohung und Konsequenz deutlich zu machen,
will man nicht eine verlogene heile Welt vorgaukeln. Im Gegensatz zu dem, was
tagtäglich aus dem Fernsehen über uns hereinbricht, ist es aber märchengemäß,
sich nicht darin zu suhlen. Realismus ja, Naturalismus nein. Herumfliegende
Körperteile, spritzendes Blut bzw. die entsprechenden Geräusche – all das ist
nicht nur angstauslösend, es entspricht auch nicht dem Märchenstil.
Brutalitäten mit unverfänglichen oder nichtssagenden Worten zu bezeichnen und
im Unkonkreten, Nebulösen zu belassen allerdings ebenso wenig.
(Der Text ist eine bearbeitete Fassung eines Artikels, der ursprünglich
im Märchenspiegel 2/2002 veröffentlicht wurde)
Ich wünsche allen Lesern ein
frohes und friedliches Weihnachtsfest!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Vielen Dank für deinen Kommentar. Sobald ich ihn geprüft habe, schalte ich ihn frei.
Viele Grüße
Gunnar