Sonntag, 2. November 2014

Kartoffeln machen bloß den Mund voll


Der Wunsch, das Leben realistisch darzustellen, hat so manchen Künstler dazu verführt, einem Naturalismus zu huldigen, der das eigentliche Anliegen unter Äußerlichkeiten begräbt. Bei meiner Recherche für den Krimi aus der Weimarer Republik, an dem ich gerade schreibe, habe ich beispielsweise erfahren, dass deutsche Bühnen vor über hundert Jahren den Naturalismus so weit trieben, dass sie während der Vorstellungen permanent Knödel und Kraut aßen, bis es den Schauspielern zum Halse heraushing. Statt der zu Kaiserzeiten vorherrschenden übertrieben großen Gebärde „war es nun löblich, wenn man nur recht natürlich Kartoffeln schälen konnte“, heißt es in einem Buch über den Regisseur Leopold Jessner, der sich diesem Ansinnen widersetzte.

Ähnlich in der Literatur: Um seine Leser anzurühren, muss ein Autor Gefühle erwecken. Zu diesem Zweck ist es hilfreich, in sich selbst und in der eigenen Vergangenheit nach Situationen zu suchen, die entsprechende Gefühle ausgelöst haben. Das Leben schreibt die schönsten, schrecklichsten, absurdesten Geschichten; keine noch so große Fantasie kann es übertrumpfen. Zudem macht es Figuren und Situationen lebendiger und authentischer, wenn man aus dem eigenen Leben schöpft und Charaktereigenschaften von Menschen übernimmt, die man kennt, vielleicht sogar wörtliche Zitate einbringt.

Daraus nun allerdings den Schluss zu ziehen, die ganze Arbeit bestünde lediglich darin, eigene Erlebnisse getreulich aufzuzeichnen, wäre fatal. Denn zum künstlerischen Prozess gehört ein zweiter Aspekt, der nicht minder entscheidend ist. Es kommt nämlich in einem Roman nicht auf Wahrheit an, sondern auf Wahrhaftigkeit, auf Wesentlichkeit, nicht auf Wirklichkeit (Max Lüthi). Das, was einem widerfahren ist, eins zu eins niederzuschreiben, macht noch keinen Künstler. Ein Schauspieler, der dreimal um den Block laufen muss, um einen atemlosen Menschen darzustellen, ist kein Schauspieler. Gefühle und Erlebnisse verlangen nach Gestaltung, um Kunst zu werden.

Das kann beispielsweise bedeuten, dass Geschehnisse, die in Wirklichkeit zu zwanzig verschiedenen Gelegenheiten an zwanzig verschiedenen Orten stattgefunden haben, zu einer Szene verdichtet werden, die für die Dauer einer Minute an einem einzigen Ort stattfindet. Es kann bedeuten, dass die Bemerkungen von einem Dutzend Menschen, von denen kein einziger Profil gewinnen könnte, würde man naturgetreu arbeiten, auf drei und dafür scharf gezeichnete Figuren verteilt werden oder sogar Person A ein Satz in den Mund gelegt wird, der eigentlich von Person B stammt, weil dieser Satz besser zu Figur A passt.

Das ist der Unterschied zwischen Naturalismus und Realismus: Es kommt nicht auf den Buchstaben an, sondern auf den Geist dahinter.

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Gunnar