Der Wunsch, das Leben realistisch
darzustellen, hat so manchen Künstler dazu verführt, einem Naturalismus zu
huldigen, der das eigentliche Anliegen unter Äußerlichkeiten begräbt. Bei
meiner Recherche für den Krimi aus der Weimarer Republik, an dem ich gerade
schreibe, habe ich beispielsweise erfahren, dass deutsche Bühnen vor über
hundert Jahren den Naturalismus so weit trieben, dass sie während der
Vorstellungen permanent Knödel und Kraut aßen, bis es den Schauspielern zum
Halse heraushing. Statt der zu Kaiserzeiten vorherrschenden übertrieben großen
Gebärde „war es nun löblich, wenn man nur recht natürlich Kartoffeln schälen
konnte“, heißt es in einem Buch über den Regisseur Leopold Jessner, der sich
diesem Ansinnen widersetzte.
Ähnlich in der Literatur: Um
seine Leser anzurühren, muss ein Autor Gefühle erwecken. Zu diesem Zweck ist es
hilfreich, in sich selbst und in der eigenen Vergangenheit nach Situationen zu
suchen, die entsprechende Gefühle ausgelöst haben. Das Leben schreibt die
schönsten, schrecklichsten, absurdesten Geschichten; keine noch so große
Fantasie kann es übertrumpfen. Zudem macht es Figuren und Situationen
lebendiger und authentischer, wenn man aus dem eigenen Leben schöpft und
Charaktereigenschaften von Menschen übernimmt, die man kennt, vielleicht sogar
wörtliche Zitate einbringt.
Daraus nun allerdings den Schluss
zu ziehen, die ganze Arbeit bestünde lediglich darin, eigene Erlebnisse
getreulich aufzuzeichnen, wäre fatal. Denn zum künstlerischen Prozess gehört
ein zweiter Aspekt, der nicht minder entscheidend ist. Es kommt nämlich in
einem Roman nicht auf Wahrheit an, sondern auf Wahrhaftigkeit, auf
Wesentlichkeit, nicht auf Wirklichkeit (Max Lüthi). Das, was einem widerfahren
ist, eins zu eins niederzuschreiben, macht noch keinen Künstler. Ein
Schauspieler, der dreimal um den Block laufen muss, um einen atemlosen Menschen
darzustellen, ist kein Schauspieler. Gefühle und Erlebnisse verlangen nach
Gestaltung, um Kunst zu werden.
Das kann beispielsweise bedeuten,
dass Geschehnisse, die in Wirklichkeit zu zwanzig verschiedenen Gelegenheiten
an zwanzig verschiedenen Orten stattgefunden haben, zu einer Szene verdichtet
werden, die für die Dauer einer Minute an einem einzigen Ort stattfindet. Es
kann bedeuten, dass die Bemerkungen von einem Dutzend Menschen, von denen kein
einziger Profil gewinnen könnte, würde man naturgetreu arbeiten, auf drei und
dafür scharf gezeichnete Figuren verteilt werden oder sogar Person A ein Satz
in den Mund gelegt wird, der eigentlich von Person B stammt, weil dieser Satz
besser zu Figur A passt.
Das ist der Unterschied zwischen
Naturalismus und Realismus: Es kommt nicht auf den Buchstaben an, sondern auf
den Geist dahinter.
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Gunnar