„Was interessiert Sie so an
dieser Sage?“, wollen die Zuhörer manchmal von mir wissen, wenn ich aus meinem
Nibelungenroman lese.
Für mich ist dieser Prototyp
einer Tragödie von einer Tiefe und Vielschichtigkeit, wie sie auf der ganzen
Welt höchstens noch in einer Handvoll klassischer griechischer Tragödien zu
finden ist. Und längst noch nicht ausgelotet.
Es gibt natürlich andere
Bearbeitungen des Stoffes als moderner Roman, aber sie alle kranken daran, dass
es immer einen Schurken gibt, der die anderen ins Unglück stürzt. Das macht
jedoch noch keine Tragödie aus. Wenn man hingegen jede der handelnden Personen
– in diesem Fall Sigfrid, Grimhild, Hagen, Brünhild und Gunter – verstehen
kann, wenn jeder für sich die besten und ehrenvollsten Absichten hat und man
ihnen als Leser alles Glück der Welt wünscht, wenn das Verhängnis aber aufgrund
der Unvereinbarkeit ihrer Ziele und Charaktere, aufgrund von Missverständnissen
und mangelnder Kommunikation und weil es diesen Menschen nicht möglich ist,
über ihren eigenen Schatten zu springen, seinen Lauf nimmt und zum Untergang
führt – das ist wahrhaft tragisch. Und ermöglicht einem Leser, auf eine tiefere
Weise mitzuempfinden.
Für diesen Roman habe ich ein
intensives Quellenstudium betrieben und die verschiedenen alten Fassungen des
Stoffes, die teilweise erheblich voneinander abweichen – Nibelungenlied, Vom
hürnen Siegfried, Thidreksage, Völsungensaga, Edda, Svava –, miteinander
verglichen. Innere Glaubwürdigkeit hat damals, als die Geschichte
aufgeschrieben wurde, oft keine Rolle gespielt. Aus heutiger Sicht und mit
heutigem Verständnis für das Seelenleben von Menschen erscheint einem vieles
darin absurd, lächerlich oder an den Haaren herbeigezogen. Mir war in meiner
Version daher besonders wichtig, die Handlungen der Personen nachvollziehbar zu
machen.
Ein Beispiel: Auslöser für das
Schlussgemetzel ist die Tatsache, dass Hagen Grimhilds kleinen Sohn tötet. In
keiner der Sagen habe ich eine schlüssige Erklärung dafür gefunden. Entweder
erscheint Hagen als eiskalter Killer oder Grimhild als Rabenmutter, die bedenkenlos
ihren Sohn opfert, um ihre Rache zu bekommen. Und warum das Kind tut, was es
tut, bleibt ebenfalls unklar. Ich habe mich lange mit dieser Stelle beschäftigt
und fand, wenn man konsequent genug fragt, fällt alles von selbst an seinen
Platz. Verraten will ich meine Lösung hier natürlich nicht. :-)
Weiterhin war mir wichtig, die
magischen Rituale der Germanen als zum Alltag gehörig und daher selbstverständlich
zu beschreiben. Zusammen mit dem gründlich recherchierten Hintergrund der
Völkerwanderungszeit ergibt sich so ein Roman, der sowohl dem fantastischen
Genre zugeordnet werden kann (Drachenkampf, Zwerge, Tarnkappe) als auch als
historischer Roman bestehen könnte. Damit sitze ich mal wieder zwischen allen
Stühlen. Aber ich glaube, dass man dem Stoff und seiner Vielschichtigkeit nur
so gerecht werden kann.
Machen sich Leser eigentlich
Gedanken darüber, unter welchen Qualen Titel entstehen? Ich weiß es nicht.
Manchmal fliegen mir Titel regelrecht zu oder ergeben sich zumindest von selbst
aus der Geschichte, bei Kurzgeschichten stehen sie gelegentlich sogar am Anfang.
In diesem Fall jedoch gestaltete sich die Titelfindung schwierig wie selten.
Mit meinen anfänglichen Ideen war ich lange Zeit unzufrieden, auch habe ich den
Fokus immer wieder anders gesetzt. Ich wollte etwas, das archaisch und poetisch
zugleich klingt, andererseits Assoziationen zu den Nibelungen zulässt, damit
der Leser gleich ahnt, worum es geht. Also die Quadratur des Kreises. Und da
die Menschen im Mittelpunkt stehen, schieden für mich die Themen Hort (Schatz)
– Rhein – Ring aus. Dann kamen noch die Vorschläge meines Verlages dazu, die
mir ebenfalls nicht gefielen. Schließlich haben wir uns auf „Der Ruf der
Walküren“ geeinigt, den ich immer noch okay finde. Für die Neuveröffentlichung
habe ich mich allerdings für „Krähen über Niflungenland“ entschieden, den ich damals
schon favorisiert hatte und der, meiner Meinung nach, eine Ahnung von der
Tragik in sich birgt.
Spaßeshalber hier noch ein paar
Alternativen aus verschiedenen Jahren, die ich allesamt verworfen habe:
Die Niflungen
Das Blutlied der Niflungen
Wolfszeit für die Niflungen
Die Nacht der Niflungen
Das Runenlied der Niflungen
Der Schatten des Runentranks
Wodans Ekstase
Wodans Schicksalsrunen
Das Murmeln des Waldes, das Klagen
der Nacht
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Gunnar