Sonntag, 15. März 2015

Was eine Tragödie ausmacht


„Was interessiert Sie so an dieser Sage?“, wollen die Zuhörer manchmal von mir wissen, wenn ich aus meinem Nibelungenroman lese.

Für mich ist dieser Prototyp einer Tragödie von einer Tiefe und Vielschichtigkeit, wie sie auf der ganzen Welt höchstens noch in einer Handvoll klassischer griechischer Tragödien zu finden ist. Und längst noch nicht ausgelotet.

Es gibt natürlich andere Bearbeitungen des Stoffes als moderner Roman, aber sie alle kranken daran, dass es immer einen Schurken gibt, der die anderen ins Unglück stürzt. Das macht jedoch noch keine Tragödie aus. Wenn man hingegen jede der handelnden Personen – in diesem Fall Sigfrid, Grimhild, Hagen, Brünhild und Gunter – verstehen kann, wenn jeder für sich die besten und ehrenvollsten Absichten hat und man ihnen als Leser alles Glück der Welt wünscht, wenn das Verhängnis aber aufgrund der Unvereinbarkeit ihrer Ziele und Charaktere, aufgrund von Missverständnissen und mangelnder Kommunikation und weil es diesen Menschen nicht möglich ist, über ihren eigenen Schatten zu springen, seinen Lauf nimmt und zum Untergang führt – das ist wahrhaft tragisch. Und ermöglicht einem Leser, auf eine tiefere Weise mitzuempfinden.

Für diesen Roman habe ich ein intensives Quellenstudium betrieben und die verschiedenen alten Fassungen des Stoffes, die teilweise erheblich voneinander abweichen – Nibelungenlied, Vom hürnen Siegfried, Thidreksage, Völsungensaga, Edda, Svava –, miteinander verglichen. Innere Glaubwürdigkeit hat damals, als die Geschichte aufgeschrieben wurde, oft keine Rolle gespielt. Aus heutiger Sicht und mit heutigem Verständnis für das Seelenleben von Menschen erscheint einem vieles darin absurd, lächerlich oder an den Haaren herbeigezogen. Mir war in meiner Version daher besonders wichtig, die Handlungen der Personen nachvollziehbar zu machen.

Ein Beispiel: Auslöser für das Schlussgemetzel ist die Tatsache, dass Hagen Grimhilds kleinen Sohn tötet. In keiner der Sagen habe ich eine schlüssige Erklärung dafür gefunden. Entweder erscheint Hagen als eiskalter Killer oder Grimhild als Rabenmutter, die bedenkenlos ihren Sohn opfert, um ihre Rache zu bekommen. Und warum das Kind tut, was es tut, bleibt ebenfalls unklar. Ich habe mich lange mit dieser Stelle beschäftigt und fand, wenn man konsequent genug fragt, fällt alles von selbst an seinen Platz. Verraten will ich meine Lösung hier natürlich nicht. :-)

Weiterhin war mir wichtig, die magischen Rituale der Germanen als zum Alltag gehörig und daher selbstverständlich zu beschreiben. Zusammen mit dem gründlich recherchierten Hintergrund der Völkerwanderungszeit ergibt sich so ein Roman, der sowohl dem fantastischen Genre zugeordnet werden kann (Drachenkampf, Zwerge, Tarnkappe) als auch als historischer Roman bestehen könnte. Damit sitze ich mal wieder zwischen allen Stühlen. Aber ich glaube, dass man dem Stoff und seiner Vielschichtigkeit nur so gerecht werden kann.

Machen sich Leser eigentlich Gedanken darüber, unter welchen Qualen Titel entstehen? Ich weiß es nicht. Manchmal fliegen mir Titel regelrecht zu oder ergeben sich zumindest von selbst aus der Geschichte, bei Kurzgeschichten stehen sie gelegentlich sogar am Anfang. In diesem Fall jedoch gestaltete sich die Titelfindung schwierig wie selten. Mit meinen anfänglichen Ideen war ich lange Zeit unzufrieden, auch habe ich den Fokus immer wieder anders gesetzt. Ich wollte etwas, das archaisch und poetisch zugleich klingt, andererseits Assoziationen zu den Nibelungen zulässt, damit der Leser gleich ahnt, worum es geht. Also die Quadratur des Kreises. Und da die Menschen im Mittelpunkt stehen, schieden für mich die Themen Hort (Schatz) – Rhein – Ring aus. Dann kamen noch die Vorschläge meines Verlages dazu, die mir ebenfalls nicht gefielen. Schließlich haben wir uns auf „Der Ruf der Walküren“ geeinigt, den ich immer noch okay finde. Für die Neuveröffentlichung habe ich mich allerdings für „Krähen über Niflungenland“ entschieden, den ich damals schon favorisiert hatte und der, meiner Meinung nach, eine Ahnung von der Tragik in sich birgt.

Spaßeshalber hier noch ein paar Alternativen aus verschiedenen Jahren, die ich allesamt verworfen habe:
Die Niflungen
Das Blutlied der Niflungen
Wolfszeit für die Niflungen
Die Nacht der Niflungen
Das Runenlied der Niflungen
Der Schatten des Runentranks
Wodans Ekstase
Wodans Schicksalsrunen
Das Murmeln des Waldes, das Klagen der Nacht

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Gunnar