Jetzt, wo ich damit durch bin,
kann ich’s ja verraten: Die Universitätsbibliothek Göttingen ist die einzige in
Deutschland, die die complete stories of
Theodore Sturgeon im Bestand hat. Ich habe mir die Bücher dort nach und
nach per Fernleihe ausgeliehen.
Gehofft hatte ich natürlich,
unbekannte Schätze eines meiner Lieblingsautoren, von dem ich an dieser Stelle schon einmal berichtete, heben
zu können. Um es vorweg zu nehmen: Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Es gibt
die eine oder andere neue Geschichte, die sich durch eine gewisse Originalität
auszeichnet (The other Celia), mehr
nicht. Erstaunlicherweise sind es gerade die späten Geschichten, die
enttäuschen. Weil es im Grunde keine Geschichten mehr sind, sondern
illustrierte Theorien.
Dabei sollte Sturgeon es
eigentlich besser wissen, schließlich hat er selbst eine Erkenntnis
kolportiert, die er Horace Gold, einem seiner Herausgeber, verdankt: „Wenn du
ernsthafte Überzeugungen hast, wenn du wirklich an etwas glaubst, wird es
hindurchscheinen, egal, was du schreibst. Dann kommt das Bedeutsame von selbst
in deine Werke hinein.“
Die richtig guten Geschichten von
ihm, das musste ich jedenfalls feststellen, kannte ich schon, weil sie allesamt
um die Siebzigerjahre herum in Deutschland veröffentlicht wurden. Was natürlich
kein Grund ist, sie nicht noch einmal und diesmal im Original zu lesen.
Sturgeon war ein amerikanischer
Science Fiction-Autor der Vierziger- bis Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts.
Seine Geschichten handeln von gewöhnlichen Menschen, deren Leben durch etwas
Außergewöhnliches verändert wird, von Menschen, die aus Furcht ihre besten Eigenschaften
sabotieren, und von dem Potential, das wir entwickeln könnten, wenn wir unsere
Kräfte konstruktiv statt destruktiv einsetzen würden. Das Individuum im
Verhältnis zur Gesellschaft ist sein Thema, Toleranz und Konformitätsdruck. Er
war ein Sucher, ein Moralist, ein Visionär, der in seinen Texten alternative
Lebensformen ausprobierte. Gebrochene Individuen, die zusammenkommen und
gemeinsam einen neuen Menschen formen, den homo
gestalt, war eines seiner Lieblingsthemen, und natürlich warnte er in den
Vierzigern wie so viele seiner Kollegen vor der Atombombe. Was ihn jedoch vor
allem ausmacht, ist sein Mitgefühl. Stets blickt er mit Liebe auf die Fehler
und Schwächen seiner Mitmenschen.
Er wollte seine Leser öffnen, sie
konfrontieren mit ihren Begrenzungen und ihren noch unerforschten Möglichkeiten.
Er glaubte fest daran, dass es in jeder Situation wichtig ist, nicht stehen zu bleiben,
sondern immer die nächste Frage zu stellen. Für diese Einstellung schuf er
sogar ein Symbol, das er in Form eines Anhängers mit sich herumtrug: Ein silbernes
„Q“ für question mit einem Pfeil.
More than human, ein Roman, der eigentlich aus drei Kurzgeschichten
besteht und als sein Meisterwerk gilt, ist ein gutes Beispiel für seine Art,
Geschichten zu erzählen. Den zweiten Teil, Baby
is three, finde ich eher so lala und den dritten Teil, Morality, arg didaktisch, aber die erste Geschichte des Buches, The fabulous idiot, packt mich auch nach
all den Jahren immer noch durch Sturgeons bewegende Art, Einsamkeit zu
schildern, sexuelles Erwachen, Sehnsucht, Verlangen und Verleugnung,
Unzulänglichkeit – eben zutiefst menschliche Verhaltensweisen.
Seine depressiven Phasen führten ihn
zu Einsichten in die Natur des Menschen und waren der Humus für die Tiefe und Vielschichtigkeit
seiner Texte. Wenn er eine Geschichte im Kopf hatte, schrieb er wie besessen
und konnte sie in Windeseile fertigstellen, aber aufgrund seiner
Schreibblockaden hatte er ständig Probleme mit Abgabeterminen. Ein Lektor, den
er vier Jahre lang hinhielt, brachte es so auf den Punkt: „Ich weiß, dass Sturgeon
einen Roman in drei Tagen schreiben kann – aber in welchen drei Tagen?“
Seine Texte hatten oft nur einen
losen Bezug zur Science Fiction, aber fast immer waren sie durchzogen von
Magie. Und damit meine ich nicht die Zauberformel-und-Hexenbesen-Art von Magie,
sondern jene Magie, die entsteht, wenn Worte einem neue Erkenntnisse und neue
Welten eröffnen. Vor allem aber war er ein Literat ersten Ranges. Seine Prosa
besitzt eine musikalische Qualität (er spielte übrigens Gitarre und sang), die
in seinen Texten zu spüren ist.
Sturgeon schätzte die Tatsache,
dass die Science Fiction ihm keine Grenzen setzte, worin sie für ihn der Lyrik
ähnelt. Seine Arbeit beeinflusste maßgeblich mindestens zwei Generationen von
Schriftstellern, und „seine Brillanz bleibt eine beständige Erinnerung daran,
dass dieses traurige Genre der Träume und Illusionen Literatur sein kann. Wir
wissen, was wir sein können, aber wir stehen uns immerzu selbst im Weg. Ted war
der König dieser Erkenntnis. Er konnte nicht einen Augenblick lang aufhören,
Sturgeon zu sein, und er war gekettet an ein Genre, das für ihn zu klein war“,
schreibt Harlan Ellison über ihn. Isaac Asimov bewundert, mit welchem
Feingefühl er seine Themen anging. Und Robert A. Heinlein meint: „In fünfzig
Jahren des Geschichtenerzählens sprach Sturgeon zu uns über Liebe, wieder und
wieder und wieder, ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen.“
Manches, was er schrieb, ist aus
heutiger Sicht problematisch. So teilte er zum Beispiel wie so viele den damals
ungebrochenen Glauben an die Psychotherapie und dass sie einen Menschen
auseinandernehmen und besser wieder zusammensetzen könnte (The other man; Won’t you walk) oder idealisierte Tricks und
Techniken, um Menschen zu ihrem Glück zu zwingen (Occam’s scalpel; Not an affair; Unite and conquer).
Außerdem war er von der ursprünglichen
Form von Dianetics überzeugt, also dem, was später einmal die Scientology
werden sollte (ihr Gründer, L. Ron Hubbard, war SF-Autor und als solcher
Sturgeon persönlich bekannt. Wobei Hubbard offenbar Dianetics nicht erfunden,
sondern nur zusammengefasst hat). Sturgeons Aussage nach hat Dianetics bei ihm
sowohl als Patient als auch als „Auditor“ funktioniert. Andererseits hat er in
aller Deutlichkeit ausgesprochen, dass Hubbard sich in einen
„größenwahnsinnigen Spinner“ verwandelte („... und es ist mir egal, ob man mir
deswegen den Prozess macht und mich erschießt, es ist die Wahrheit“).
Es ist eine interessante, wenn
auch fruchtlose Überlegung, wie er wohl auf den heutigen Feminismus und seine
Auswüchse reagiert hätte. Einerseits hat er oft genug Frauen idealisiert (Largo; It wasn’t Syzygy) und die Überzeugung vertreten, die Frau müsse den
Mann vor sich selbst retten (The country
of afterward; And my fear is great). Andererseits war er immer ein
unabhängiger Denker, ein scharfsinniger Beobachter und gnadenloser Kritiker von
Manipulationen (Mr Costello, Hero; The
comedian’s children; Fear is a business) und hat schon in den Fünfzigern,
wenngleich noch als lustig gemeinte Geschichte, einen Geschlechterkrieg
beschrieben, den Männer nicht gewinnen können (Never underestimate).
Wie auch immer, seinen
unnachahmlichen Stil wiederzuentdecken, war den Aufwand wert. Ich weiß wieder,
warum ich ihn als einen der größten Stilisten schätze. An dieser Stelle könnte
ich einige Textstellen zitieren, zum Beispiel:
„Als sie geboren wurde, hatte sie
schon die Falten um den Mund, die alte Jungfern bekommen, wenn sie an den
eigenen Lippen saugen statt an anderen.“ (Crate)
„Ich fragte mich, wie viel
Alkohol er in den leeren Ort gegossen hat, an dem die meisten Männer ihren Mut
aufbewahren.“ (The stars are the Styx)
„Die größtmögliche Chance zu
überleben, die sie haben, liegt bei etwa 54 Prozent, eine Zahl, die auf
Berechnungen basiert, die so komplex sind, dass man sie ebenso gut als
Schätzung bezeichnen könnte.“ (The stars are
the Styx)
„Wenn du dir einen Mob als
Lebewesen vorstellst und seinen Intelligenzquotienten herausfinden willst, nimm
die Durchschnittsintelligenz der Anwesenden und teile sie durch deren Anzahl.
Was bedeutet, dass ein Mob von fünfzig Leuten etwas weniger Intelligenz besitzt
als ein Regenwurm.“ (Affair with a green
monkey)
Aber was ich eigentlich an Sturgeon
bewundere, ist das, was zwischen den Zeilen steht, die Untertöne, die den
Texten einen Reichtum hinzufügen, der uns dazu bringt zu verstehen, was den
Menschen ausmacht.
Beispielsweise wenn er uns fühlen
lässt, wie Einsamkeit zuviel werden kann und man sich verzweifelt nach einer
Seele sehnt, um dieses Gefühl zu teilen, eine Geschichte, die mich immer noch
zu Tränen rührt (A saucer of loneliness).
Oder wenn er uns erzählt, dass
Wünsche nicht dasselbe sind wie Bedürfnisse, die echter Not entspringen (Need).
Oder wie ein kostbarer Augenblick
der Erkenntnis, in dem man seinem Schicksal eine neue Richtung geben könnte,
zerstört wird, dargestellt am Beispiel von Jorry, der eines Tages begreift,
dass man etwas ändern kann, wenn man einander wirklich zuhört, und der diese
Erkenntnis nicht umsetzen kann, weil er den ritualisierten Konflikten und den
ewig gleichen gegenseitigen Vorwürfen in seiner Familie unterliegt (Jorry’s gap).
Bei allen Fehlern, bei allen
Schwächen – für mich ist und bleibt Sturgeon einer der ganz Großen der
Literatur.
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Gunnar