Sonntag, 5. Juli 2015

Noch einmal Theodore Sturgeon


Jetzt, wo ich damit durch bin, kann ich’s ja verraten: Die Universitätsbibliothek Göttingen ist die einzige in Deutschland, die die complete stories of Theodore Sturgeon im Bestand hat. Ich habe mir die Bücher dort nach und nach per Fernleihe ausgeliehen.

Gehofft hatte ich natürlich, unbekannte Schätze eines meiner Lieblingsautoren, von dem ich an dieser Stelle schon einmal berichtete, heben zu können. Um es vorweg zu nehmen: Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Es gibt die eine oder andere neue Geschichte, die sich durch eine gewisse Originalität auszeichnet (The other Celia), mehr nicht. Erstaunlicherweise sind es gerade die späten Geschichten, die enttäuschen. Weil es im Grunde keine Geschichten mehr sind, sondern illustrierte Theorien.

Dabei sollte Sturgeon es eigentlich besser wissen, schließlich hat er selbst eine Erkenntnis kolportiert, die er Horace Gold, einem seiner Herausgeber, verdankt: „Wenn du ernsthafte Überzeugungen hast, wenn du wirklich an etwas glaubst, wird es hindurchscheinen, egal, was du schreibst. Dann kommt das Bedeutsame von selbst in deine Werke hinein.“

Die richtig guten Geschichten von ihm, das musste ich jedenfalls feststellen, kannte ich schon, weil sie allesamt um die Siebzigerjahre herum in Deutschland veröffentlicht wurden. Was natürlich kein Grund ist, sie nicht noch einmal und diesmal im Original zu lesen.

Sturgeon war ein amerikanischer Science Fiction-Autor der Vierziger- bis Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts. Seine Geschichten handeln von gewöhnlichen Menschen, deren Leben durch etwas Außergewöhnliches verändert wird, von Menschen, die aus Furcht ihre besten Eigenschaften sabotieren, und von dem Potential, das wir entwickeln könnten, wenn wir unsere Kräfte konstruktiv statt destruktiv einsetzen würden. Das Individuum im Verhältnis zur Gesellschaft ist sein Thema, Toleranz und Konformitätsdruck. Er war ein Sucher, ein Moralist, ein Visionär, der in seinen Texten alternative Lebensformen ausprobierte. Gebrochene Individuen, die zusammenkommen und gemeinsam einen neuen Menschen formen, den homo gestalt, war eines seiner Lieblingsthemen, und natürlich warnte er in den Vierzigern wie so viele seiner Kollegen vor der Atombombe. Was ihn jedoch vor allem ausmacht, ist sein Mitgefühl. Stets blickt er mit Liebe auf die Fehler und Schwächen seiner Mitmenschen.

Er wollte seine Leser öffnen, sie konfrontieren mit ihren Begrenzungen und ihren noch unerforschten Möglichkeiten. Er glaubte fest daran, dass es in jeder Situation wichtig ist, nicht stehen zu bleiben, sondern immer die nächste Frage zu stellen. Für diese Einstellung schuf er sogar ein Symbol, das er in Form eines Anhängers mit sich herumtrug: Ein silbernes „Q“ für question mit einem Pfeil.

More than human, ein Roman, der eigentlich aus drei Kurzgeschichten besteht und als sein Meisterwerk gilt, ist ein gutes Beispiel für seine Art, Geschichten zu erzählen. Den zweiten Teil, Baby is three, finde ich eher so lala und den dritten Teil, Morality, arg didaktisch, aber die erste Geschichte des Buches, The fabulous idiot, packt mich auch nach all den Jahren immer noch durch Sturgeons bewegende Art, Einsamkeit zu schildern, sexuelles Erwachen, Sehnsucht, Verlangen und Verleugnung, Unzulänglichkeit – eben zutiefst menschliche Verhaltensweisen.

Seine depressiven Phasen führten ihn zu Einsichten in die Natur des Menschen und waren der Humus für die Tiefe und Vielschichtigkeit seiner Texte. Wenn er eine Geschichte im Kopf hatte, schrieb er wie besessen und konnte sie in Windeseile fertigstellen, aber aufgrund seiner Schreibblockaden hatte er ständig Probleme mit Abgabeterminen. Ein Lektor, den er vier Jahre lang hinhielt, brachte es so auf den Punkt: „Ich weiß, dass Sturgeon einen Roman in drei Tagen schreiben kann – aber in welchen drei Tagen?“

Seine Texte hatten oft nur einen losen Bezug zur Science Fiction, aber fast immer waren sie durchzogen von Magie. Und damit meine ich nicht die Zauberformel-und-Hexenbesen-Art von Magie, sondern jene Magie, die entsteht, wenn Worte einem neue Erkenntnisse und neue Welten eröffnen. Vor allem aber war er ein Literat ersten Ranges. Seine Prosa besitzt eine musikalische Qualität (er spielte übrigens Gitarre und sang), die in seinen Texten zu spüren ist.

Sturgeon schätzte die Tatsache, dass die Science Fiction ihm keine Grenzen setzte, worin sie für ihn der Lyrik ähnelt. Seine Arbeit beeinflusste maßgeblich mindestens zwei Generationen von Schriftstellern, und „seine Brillanz bleibt eine beständige Erinnerung daran, dass dieses traurige Genre der Träume und Illusionen Literatur sein kann. Wir wissen, was wir sein können, aber wir stehen uns immerzu selbst im Weg. Ted war der König dieser Erkenntnis. Er konnte nicht einen Augenblick lang aufhören, Sturgeon zu sein, und er war gekettet an ein Genre, das für ihn zu klein war“, schreibt Harlan Ellison über ihn. Isaac Asimov bewundert, mit welchem Feingefühl er seine Themen anging. Und Robert A. Heinlein meint: „In fünfzig Jahren des Geschichtenerzählens sprach Sturgeon zu uns über Liebe, wieder und wieder und wieder, ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen.“

Manches, was er schrieb, ist aus heutiger Sicht problematisch. So teilte er zum Beispiel wie so viele den damals ungebrochenen Glauben an die Psychotherapie und dass sie einen Menschen auseinandernehmen und besser wieder zusammensetzen könnte (The other man; Won’t you walk) oder idealisierte Tricks und Techniken, um Menschen zu ihrem Glück zu zwingen (Occam’s scalpel; Not an affair; Unite and conquer).

Außerdem war er von der ursprünglichen Form von Dianetics überzeugt, also dem, was später einmal die Scientology werden sollte (ihr Gründer, L. Ron Hubbard, war SF-Autor und als solcher Sturgeon persönlich bekannt. Wobei Hubbard offenbar Dianetics nicht erfunden, sondern nur zusammengefasst hat). Sturgeons Aussage nach hat Dianetics bei ihm sowohl als Patient als auch als „Auditor“ funktioniert. Andererseits hat er in aller Deutlichkeit ausgesprochen, dass Hubbard sich in einen „größenwahnsinnigen Spinner“ verwandelte („... und es ist mir egal, ob man mir deswegen den Prozess macht und mich erschießt, es ist die Wahrheit“).

Es ist eine interessante, wenn auch fruchtlose Überlegung, wie er wohl auf den heutigen Feminismus und seine Auswüchse reagiert hätte. Einerseits hat er oft genug Frauen idealisiert (Largo; It wasn’t Syzygy) und die Überzeugung vertreten, die Frau müsse den Mann vor sich selbst retten (The country of afterward; And my fear is great). Andererseits war er immer ein unabhängiger Denker, ein scharfsinniger Beobachter und gnadenloser Kritiker von Manipulationen (Mr Costello, Hero; The comedian’s children; Fear is a business) und hat schon in den Fünfzigern, wenngleich noch als lustig gemeinte Geschichte, einen Geschlechterkrieg beschrieben, den Männer nicht gewinnen können (Never underestimate).

Wie auch immer, seinen unnachahmlichen Stil wiederzuentdecken, war den Aufwand wert. Ich weiß wieder, warum ich ihn als einen der größten Stilisten schätze. An dieser Stelle könnte ich einige Textstellen zitieren, zum Beispiel:

„Als sie geboren wurde, hatte sie schon die Falten um den Mund, die alte Jungfern bekommen, wenn sie an den eigenen Lippen saugen statt an anderen.“ (Crate)

„Ich fragte mich, wie viel Alkohol er in den leeren Ort gegossen hat, an dem die meisten Männer ihren Mut aufbewahren.“ (The stars are the Styx)

„Die größtmögliche Chance zu überleben, die sie haben, liegt bei etwa 54 Prozent, eine Zahl, die auf Berechnungen basiert, die so komplex sind, dass man sie ebenso gut als Schätzung bezeichnen könnte.“ (The stars are the Styx)

„Wenn du dir einen Mob als Lebewesen vorstellst und seinen Intelligenzquotienten herausfinden willst, nimm die Durchschnittsintelligenz der Anwesenden und teile sie durch deren Anzahl. Was bedeutet, dass ein Mob von fünfzig Leuten etwas weniger Intelligenz besitzt als ein Regenwurm.“ (Affair with a green monkey)

Aber was ich eigentlich an Sturgeon bewundere, ist das, was zwischen den Zeilen steht, die Untertöne, die den Texten einen Reichtum hinzufügen, der uns dazu bringt zu verstehen, was den Menschen ausmacht.

Beispielsweise wenn er uns fühlen lässt, wie Einsamkeit zuviel werden kann und man sich verzweifelt nach einer Seele sehnt, um dieses Gefühl zu teilen, eine Geschichte, die mich immer noch zu Tränen rührt (A saucer of loneliness).

Oder wenn er uns erzählt, dass Wünsche nicht dasselbe sind wie Bedürfnisse, die echter Not entspringen (Need).

Oder wie ein kostbarer Augenblick der Erkenntnis, in dem man seinem Schicksal eine neue Richtung geben könnte, zerstört wird, dargestellt am Beispiel von Jorry, der eines Tages begreift, dass man etwas ändern kann, wenn man einander wirklich zuhört, und der diese Erkenntnis nicht umsetzen kann, weil er den ritualisierten Konflikten und den ewig gleichen gegenseitigen Vorwürfen in seiner Familie unterliegt (Jorry’s gap).

Bei allen Fehlern, bei allen Schwächen – für mich ist und bleibt Sturgeon einer der ganz Großen der Literatur.

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Gunnar